Der Künstler hat keine andere Wahl
John Cranko
»Ich fühle mich nur in meinem Ballett richtig zuhause« – wie alle Tanzkünstler konnte sich John Cranko keinen anderen Beruf, keine andere Berufung vorstellen als das klassische Ballett. In seinen Choreografien ging es dem Direktor des Stuttgarter Balletts nie um Virtuosität oder Tricks, auch nicht um die abstrakte Schönheit äußerer Formen. Ihm war immer die Bedeutung der Bewegung wichtig, die Verwandlung des äußeren Bildes in ein geistiges Bild: »Ein Ballett wird erst dadurch zur Kunst, dass alles Physische ins Metaphysische übersetzt wird.«
So wurde er deshalb zum großen Tanzerzähler des 20. Jahrhunderts und zu einem der Mitbegründer des modernen Handlungsballetts. Zu seinen obersten Prinzipien gehörte, dass die Zuschauer alles direkt verstehen können, ohne Inhaltsangabe und allein durch die Ausdruckskraft der Bewegung. Selbst in seinen handlungslosen Balletten erzählte Cranko von den Menschen, von Leben und Tod, Einsamkeit, Freundschaft oder Übermut: »Ich glaube, man muss die Schattenseiten des Lebens sehen, um irgendetwas Schöpferisches tun zu können. Erst, wenn man erkennt, wie schrecklich die Menschen sind, kann einem zum Bewusstsein kommen, wie schön sie sind.«
Aus der Welt- und Theaterstadt London verschlug es den in Südafrika geborenen Choreografen 1961 nach Stuttgart. Hier machte er aus der rechtschaffenen Staatstheater-Tanzkompanie binnen weniger Jahre das weltweit gefeierte »Stuttgarter Ballettwunder«, schuf große Tanzdramen, Ballettkomödien und zarte Miniaturen. Sein »Onegin« ist heute ein Klassiker, der in allen wichtigen Ballettzentren gezeigt wird. Cranko und seine Tänzer aus der ganzen Welt begründeten die Liebe der Schwaben zum Spitzentanz.
Gleichzeitig tat er alles, um seine Kunst, das Ballett, zu etablieren und voranzubringen: Er formte Tänzerpersönlichkeiten und baute eine Kompanie auf, er setzte bessere Arbeitsbedingungen und eine größere Unabhängigkeit von der Oper durch, gründete eine Schule und förderte junge Choreografen. Kurz, er schuf in wenigen Jahren den umfassenden Grundstock für das, was bis heute in der Ballettstadt Stuttgart blüht und gedeiht – und ein sicheres Fundament für den bis dahin wenig selbstbewussten Tanz in Deutschland, denn der Erfolg in Stuttgart strahlte weit hinaus.
Das Kreieren von Tanz, den Augenblick der Inspiration, empfand er nicht immer als Glücksmoment: »Der Choreograf muss einen Zwang zu dieser Kunst verspüren – was immer dabei herauskommt. Er kennt keine Wahl, sondern handelt unter Zwang.« Selbst ein zweifelnder und oft auch unglücklicher Mensch, war John Cranko getrieben vom Gedanken, in der Schönheit des menschlichen Körpers die Schönheit des menschlichen Geistes abzubilden: »Für mich ist Kunst wie Religion, dem Glauben unmittelbar benachbart.« Sein künstlerisches und persönliches Wirken lässt sich nicht nur in der anhaltenden Ballettliebe der Stuttgarter ermessen; bis heute arbeiten seine »Familie«, seine Tänzer, nach seinem Vorbild und in seiner Tradition hier weiter.
Von Angela Reinhardt – Sie ist Tanzjournalistin und beobachtet das Stuttgarter Ballett seit 1980. Veröffentlichungen u.a. in tanz, Tanzjournal, Tanzdrama, Ballett Intern, tanznetz.de, Stuttgarter Ballettannual. Sie lebt in Waiblingen.
Inspirierende Orte und Fakten

John Cranko (1927-1973) prägte die deutsche Ballettszene. Dem in Südafrika geborenen Choreografen verdankt Deutschland das vielbeschworene Ballettwunder. Mit seiner Energie, seinem Engagement und der choreographischen Brillanz schrieb er Tanzgeschichte.
15. August 1927 in Rustenburg, Südafrika
Ben El Halawany, Felix Bareis, Staatliche Akademie der Bildenden Künste Stuttgart