Vier mit Personen besetzte Kanus, die nah aneinander auf einem Gewässer fahren.
Vier mit Personen besetzte Kanus, die nah aneinander auf einem Gewässer fahren.

Kulturpolitische Kanutouren im Rahmen des Festivals JETZT! der Kulturregion Stuttgart in Remseck, Marbach und Bad Cannstatt

»Leinen los!« für eine nachhaltige Kulturpolitik

Von Elisabeth Maier

Das Konzept: Der Untertitel des Festivals JETZT! der KulturRegion Stuttgart lautet »Handlungsräume zwischen Kunst und Gesellschaft«. Ein zentraler Baustein des Konzepts der Kurator*innen Bernhardt Herbordt und Melanie Mohren war es dabei, neue Formate der Vermittlung zu finden. Die kulturpolitischen Kanutouren sind als Gesprächsformate auf dem Wasser angelegt. Als Teil der Akademie, zentraler Bestandteil des Festivals, fanden drei Kanutouren statt.

Akteur*innen des Festivals miteinander ins Gespräch zu bringen, und – im entspannten Dialog auf dem Wasser – über künstlerische Projekte und über Perspektiven des Festivals der KulturRegion nachzudenken, ist das Ziel. Das Angebot richtete sich an Studierende wie auch an Besucher*innen des Festivals in den Kommunen der KulturRegion Stuttgart. Als Gesprächspartner waren Künstler*innen, Vertreter*innen der Kulturämter und Kurator*innen eingeladen. Die Moderation der Gespräche übernahm die Kulturjournalistin Elisabeth Maier. Mit einem Picknick auf oder am Wasser ging es darum, in entspannter Atmosphäre ins Gespräch zu kommen und über Perspektiven für das Festival nachzudenken. Die Kanutouren waren eingebettet in das Festivalprogramm an den jeweiligen Orten. Dabei lenkten Herbordt/Mohren den Blick auf die Flüsse der Region und auf deren Erschließung. 

Remseck: 
Die erste Tour in Remseck am Neckastrand fand im Vorfeld des Abendprogramms statt. Zwei Stunden lang ging die Tour durch die schön erschlossene Flusslandschaft. Gegenüber dem Hechtkopf mit der Gaststätte und dem Biergarten Bootshaus ist ein Sandstrand mit Spielplatz und Sitzstufen angelegt. Im Sommer kommen dort hunderte Gäste aus der ganzen Region, um den Strand zu erleben. Die kulturpolitische Kanutour war eingebettet in verschiedene Aktionen. 

An der Station des Kanu-Verleihs der »Zugvögel« in Remseck ging es los. Im Vierer-Kanadier berichtete die künstlerische Leiterin Melanie Mohren von der rund zweijährigen Vorbereitungszeit für das Festival. In Gesprächen entwickeln die Kurator*innen mit den Kommunen Programme, die individuell auf die lokalen Gegebenheiten und auf die Menschen zugeschnitten sind. Unterschiedliche gesellschaftliche Gruppen für kulturelle Angebote zu begeistern, ist Melanie Mohren ein Anliegen. Dabei hat die Kuratorin gerade jene Menschen im Blick, denen die Teilhabe an Kultur und Bildung ansonsten erschwert ist. 

In Remseck ging es darum, den Neckarstrand mit einem Kulturprogramm in Szene zu setzen. Auf dem Sandstrand war das vier Mal vier Meter große, knallgelbe Kissen der Künstler*innen Leonie Mohr und Hannes Hartmann aufgebaut. Das aufblasbare Kissen reiste während des Festivals von Ort zu Ort und sollte der Begegnung dienen. Dort konnten Besucher*innen die Klangreise von Gloria Aino Grzywatz und Matthias Nagel erleben – sie haben mit Menschen aus der Region gesprochen, und ihre Eindrücke auf Band festgehalten. Diesen Geschichten im Sitzen oder Liegen zu lauschen, war ein besonderes Erlebnis. Auch das Festival-Floß, konstruiert von Floßbauer und Kapitän Manuel Assner, machte an diesem Tag im Remseck Station. Damit haben Herbordt/Mohren ein weiteres verbindendes Element in ihre Festivalkonzeption einbezogen. Denn die Flüsse verbinden die 43 Mitgliedskommunen der KulturRegion Stuttgart.

Die Performancegruppe CIS aus Stuttgart nahm die Besucher*innen abends auf eine musikalische und performative Reise mit. »Wasser, Wasser« heißt die Produktion der Stuttgarter Gruppe CIS. Sie haben ihr Musical für den besonderen Ort adaptiert. In der Performance, die an unterschiedlichen Orten spielte und die mit einem Konzert in der Gaststätte »Schifferclub« endete, zeigten die Künstler*innen, wie sich die Flusslandschaft als Bühne für kulturelle Veranstaltungen nutzen lässt. Diese Impulse von außen sind ein wichtiges Ziel des Festivals der KulturRegion Stuttgart, wie Remsecks Oberbürgermeister Dirk Schönberger im Gespräch mit Bettina Pau, der Geschäftsführerin der KulturRegion Stuttgart, sagte: »Sie bringen uns mit dem Festival immer wieder neue Anregungen mit.« Auch in Remseck kann und sollte die Performance am Wasser nachhaltige Wirkung zeigen. Die attraktive Uferlandschaft lässt sich auch von kulturtreibenden Vereinen für ihre Projekte nutzen.  

Marbach: 
Künstler*innen waren bei der kulturpolitischen Kanutour mit im Boot. Im Marbacher Landschaftspark ging es auf den Neckar. Die Stadt hat den Fluss im Bereich der Schleuse und der Schiffsanlegestelle mit Stufen, einem Steg für Stand-up-Paddles und Kanus sowie Sitzgelegenheiten als Naherholungsraum erschlossen. Mit Nana Hülsewig und dem Duo Tyler Cunningham und Emilia Dorr waren sehr unterschiedliche Künstler*innen des Festivals vertreten. Im Gespräch mit der Journalistin Elisabeth Maier stellten sie ihre Projekte vor, die niederschwellige Kulturerlebnisse in den jeweiligen Orten der KulturRegion Stuttgart möglich machen.

Die Musikerin, Kostümbildnerin und Performerin Nana Hülsewig lud ins Kornwestheimer Bewohner- und Familienzentrum nahe dem Salamander-Areal ein. Dort arbeitete sie im Gartenhaus im Rahmen einer Residenz an ihrem Projekt Iconic (AT), das sich mit der Rolle der Frau auseinandersetzt. »Berühmten Frauen sind weit weniger Häuser gewidmet als ihren männlichen Kollegen«, sagt die 60-jährige Künstlerin, die da ein starkes Zeichen setzen will. Das Gartenhaus – ein Treffpunkt unterschiedlicher Gesellschaftsschichten – hat sie zu ihrem gemacht. Da zeigte sie ihre aufwändig gestalteten Kostüme, präsentierte Fotos von ihren Projekten und probte Songs. Der Videokünstler Valentin Kemmner begleitete das Projekt.

Für die Künstlerin war es spannend, »ein Publikum zu erreichen, das der Kultur sonst eher fernsteht.« Ältere Damen, die im Viertel leben, tauschten sich mit ihr über die kunstvoll gehäkelten Kostüme aus, die den weiblichen Körper in Szene setzen. Mit ihren Designs, die sie selbst trägt, will Hülsewig zeigen, »dass der weibliche Körper auch im Alter attraktiv ist.« Eine Mädchengruppe, die im Viertel lebt, durfte die Künstlerin nach eigenen Vorstellungen schminken. »Ich habe ihnen freien Lauf gelassen.« Die Schülerinnen kamen mit der Künstlerin über positive Frauen-Vorbilder ins Gespräch. 

Die Stadtmauer in Weil der Stadt haben die jungen Performer*innen Tyler Cunningham und Emilia Dorr mit einem Audiowalk künstlerisch erschlossen. Beide haben vor kurzem ihr Performance-Studium an der Stuttgarter Hochschule für Musik und Darstellende Kunst abgeschlossen. Als einen »spannenden Start« in die eigene künstlerische Karriere hat Cunningham das Projekt erlebt. Zudem fand er es spannend, mit den Vertreter*innen der Kulturverwaltung zu arbeiten: »Sie haben unsere künstlerischen Konzepte möglich gemacht.« Der professionell mit Kopfhörern realisierte Audiowalk war während des Festivals jederzeit zu den Öffnungszeiten der Stadt- und Tourist-Info nach einer kurzen Einführung durch die Mitarbeiter*innen zugänglich. Die »unkomplizierte Zusammenarbeit« hat Emilia Dorr sehr gefallen. Den Freiraum, den ihr das Festival der KulturRegion Stuttgart geboten habe, hat die Künstlerin genossen. Beide Performer*innen waren regelmäßig vor Ort. »Wir haben positives Feedback von den Menschen bekommen«, sagt Emilia Dorr. Die Stadtmauer aus künstlerischer Perspektive neu zu betrachten, hat vielen gut gefallen.

Trotz der Regenvorhersage fand die Kanutour auf dem Fluss bei Sonnenschein und angenehmen Herbsttemperaturen statt. Das Format hat Alexander Maier, der als Gast teilnahm, gut gefallen. »Da heißt es ›Leinen los‹, man ist auf dem Wasser und in einer ganz neuen Art der Bewegung«, sagt der Kulturjournalist. In diesem Zustand mit den Künstler*innen ins Gespräch zu kommen, hat ihm gut gefallen. »Der entspannte Austausch« hat ihm neue Horizonte geöffnet. Nach dem gemeinsamen Picknick an den Sitzbänken lud Emilia Dorr die Gruppe zum gemeinsamen Cool Down ein. 

Bad Cannstatt: 
Anders als in den Kommunen der Region ist der Neckar im Bereich der Schleuse in Bad Cannstatt nicht gut erschlossen. Zwar gibt es Wege links und rechts des Flusses. Wegen der Schiffsanlegestellen und industrieller Einrichtungen ist der Fluss aber nur passagenweise erreichbar. Darauf macht die Bewegung Critical Nass immer wieder aufmerksam. Das Festival JETZT! nahm diesen Impuls auch mit den kulturpolitischen Kanutouren auf. Bei dieser Runde waren Kurator*innen, Kulturverantwortliche der Kommunen und Journalist*innen auf dem Boot. 

Auf die Nachhaltigkeit von Festivals verwies die Berliner Dramaturgin und Kuratorin Nadine Vollmer. Die langjährige Festivaldramaturgin hat unter anderem bei den Musiktagen Donaueschingen das Auftragswerk »Das Festival« von Herbordt/Mohren als Dramaturgin betreut. Mit dieser Arbeit zeigten Herbordt/Mohren 2019 erstmals als Performance das fiktive Festival, das künstlerische Prozesse in den Fokus rückt. »Es darf nicht nur um große Gastspiele und schnelle Effekte gehen«, sagt Vollmer auch mit Blick auf das Festival der KulturRegion Stuttgart. Wichtig sind aus ihrer Sicht die »nachhaltigen Aspekte«, also auch das, was vom Festival bleibt. Dass alle zwei Jahre für jede Festival-Auflage neue Kurator*innen gekürt werden, sieht Vollmer mit Blick auf diese Aufgabe als Problem. Denn Kontakte müssten wachsen. Dieser Prozess dauere oft über Jahre.

Nachhaltig wirkt das Festival aus der Sicht von Nora Niethammer mit Blick auf die Förderung junger Kunstschaffender. »Sie kommen in Kontakt mit Kommunen und dürfen dort ihre Projekte realisieren«, sagt die Expertin für Tanz und Theater, die sich bei der Stadt Stuttgart um Förderprogramme kümmert. Niethammer hat selbst viel Erfahrung mit Festivals, unter anderem dem SpielART-Festival in München. In diesem Kontext »Experimentierräume für den Nachwuchs« zu schaffen, findet sie wichtig.

Dass es eines langen Atems bedarf, um Festivals oder künstlerische Projekte mit den Menschen jenseits der Zentren umzusetzen, hat der aktuelle Festival-Kurator Bernhard Herbordt erfahren. »Es bedarf langer, intensiver Beziehungsarbeit«, sagt er mit Blick auf das Projekt Das Dorf, das Herbordt/Mohren in Michelbach an der Lücke kuratierten. Eineinhalb Jahre habe das Duo damals mit den Menschen in Ortschaftsräten gesprochen, um das erfolgreiche Konzept zu realisieren. »Da bedarf es der Bereitschaft aller, sich auf neue Formate einzulassen.« Und auch die Finanzierung für solche Langzeit-Projekte müsse gesichert sein. 

In ihrem Konzept für das JETZT!-Festival haben Herbordt/Mohnen eine wesentliche Neuerung realisiert. Als Festival-Philosoph war der schwerstbehinderte Performer, Choreograf und Tänzer Michael Turinsky mit drei Salons vertreten. Mit Expert*innen diskutierte der Künstler über die Themen Landwirtschaft, Energie und Mobilität. Außerdem zeigte er am Stuttgarter Produktionshaus Die Rampe seine mit dem bedeutenden österreichischen Theaterpreis ausgezeichnete Produktion »Precarious Moves«. Dieser rote Faden, den Turinsky als Künstlerpersönlichkeit durch das Festival zog, fand beim Festivalpublikum in Böblingen, Marbach und Stuttgart viel Anklang. 

»Mehr Publikum für die herausragenden Projekte« würde sich Ina Penßler wünschen, die das Kunstbüro in Filderstadt leitet. Dort waren im Weilerhau-Wald in diesem Jahr Arbeiten namhafter Bildhauer*innen zu sehen, die im Rahmen eines Symposiums entstanden sind. In der Stadt stieß die Ausstellung mitten im Wald auf großen Anklang. Spaziergänger*innen, die sonst kaum für Museen zu interessieren wären, erlebten das Angebot unter freiem Himmel beim Sonntagsspaziergang. Ina Penßler hat viele der Projekte mit Kooperationspartner*innen realisiert. 2020 etwa porträtierte die Kunstprofessorin und Fotokünstlerin Katharina Mayer Familien in Filderstadt. So sei das Projekt bei den Menschen auf breites Interesse gestoßen.

Ein wichtiger Punkt war für die Diskussionsrunde auf dem Neckar bei Bad Cannstatt die Sichtbarkeit der Festivals. Da gilt es, die lokalen Medien zu informieren und für die Berichterstattung zu begeistern. Das kann nach Ansicht von Elisabeth Maier durch lebendige Porträts und Reportagen im Vorfeld geschehen. Da haben aus ihrer Sicht die Tageszeitungen eine wichtige Funktion als vermittelnde Medien. Ein Problem sind die Amtsblätter, die strenge Regeln für Berichte oder Ankündigungen von Veranstaltungen haben. »Da haben wir keinen Spielraum, wenn es die Satzung anders vorgibt«, sagt Thomas Krämer, der Pressesprecher der Stadt Leinfelden-Echterdingen. Wenn sich aber die Verwaltungsspitze an den Veranstaltungen der KulturRegion Stuttgart aktiv beteilige, habe er da auch die Möglichkeit, im Amtsblatt zu berichten. »In der heutigen Medienlandschaft spielen Influencer*innen zunehmend eine wichtige Rolle«, ist die junge Event-Managerin Johanna Hübner überzeugt. Da gelte es, neue digitale Kanäle zu erschließen, um gerade die junge Generation zu erreichen. 

Vermittlerin

Elisabeth Maier hat in Tübingen und San Diego (USA) deutsche und amerikanische Literatur und Politikwissenschaft studiert. Nach der journalistischen Ausbildung bei der Esslinger Zeitung mit Schwerpunkt Kultur arbeitet sie dort als Redakteurin - inzwischen in der Gemeinschaftsredaktion der Esslinger Zeitung, Stuttgarter Zeitung und Stuttgarter Nachrichten. Parallel ist sie seit 2007 als Theaterkritikerin für verschiedene Fachmedien tätig. Für die Zeitschrift Theater der Zeit hat sie die baden-württembergische Theaterszene im Blick. Kulturpolitische und ästhetische Themen im Zusammenhang zu betrachten, ist ihr Ziel.