Benjamin Heidersberger zum Projekt »Drehmoment«

»Das Drehmoment ist eine physikalische Größe, gemessen in Newtonmeter und bekannt bei Automobilen. Der Drehmoment ist der Moment, in dem sich alles dreht.

Im Oktober 2018 veranstaltet die KulturRegion Stuttgart das Festival Drehmoment, das 27 Kunstwerke in 21 Kommunen zeigen wird, die von 34 Künstlern speziell für dieses Ereignis unter Einbeziehung der Kommunen und vor Ort ansässiger Firmen geschaffen werden. Damit unterscheidet sich das Festival von vergleichbaren Veranstaltungen, wo von Künstlern in ihren Ateliers geschaffene Werke an einem Ort zusammengetragen werden. Aufgabe der Künstler war es ausdrücklich, über das rein Ästhetische hinaus Bezug zu nehmen zum Ort und zur Firma, Fragen zu stellen und sich gesellschaftspolitisch einzubringen.

Die Region Stuttgart ist geprägt durch die Schwaben, durch den Wohlstand im Umfeld zweier großer Automobilfirmen und ihrer Zulieferer, aber auch durch erstaunliche Hidden Champions, die, oft inhabergeführt, Weltmarktanteile auf ihrem Spezialgebiet haben. Immer wieder hört man, dass das Schwäbische die Grundlage des wirtschaftlichen Erfolges ist. In Gesprächen mit vielen Unternehmern taucht das Thema Veränderung auf, aber auch Skepsis, wie der Wandel zu bewältigen ist.

Die Region Stuttgart hat neben dem Zentrum Stuttgart andere kleinere Zentren, die zwar Bestandteile desselben wirtschaftlichen und sozialen Biotops sind, aber durch teilweise große Distanzen und kommunale Selbstbestimmtheit divergieren. Aufgabe des Festivals ist es daher auch, zu einer kulturellen Identität der Region beizutragen.

Der Schwabe sagt »schaffen« statt »arbeiten«. Arbeit als körperliche und geistige Betätigung ist prozessorientiert, das schwäbische Schaffen ist ergebnisorientiert, dem Produkt, der Produktion verbunden. Sinnigerweise setzt das Festival der Produktion den Künstler gegenüber, der diametral anders arbeitet.

Stuttgart ist eine exportorientierte Hightechregion, die enorm von der Globalisierung und der Qualität der Produkte profitiert und zum guten Ruf des »Made in Germany« beiträgt, die Exportquote des prägenden verarbeitenden Gewerbes beträgt etwa 70%. Dies hat in der Region zu Arbeitsplätzen und Wohlstand, aber auch zu einer erfolgsgewohnten Saturiertheit geführt.

Stuttgart und die Region sind maßgeblich durch das Automobil bestimmt. Der Umstieg vom Verbrennungsmotor zu alternativen Antriebs- und Verkehrsformen wird in den kommenden Jahren einen großen Umbruch bedeuten. Lange hat man sich auf das 130-jährige Erfolgsmodell verlassen und wesentliche Entwicklungen vernachlässigt, die heute mit »Can Do«-Mentalität im Silicon Valley oder in China stattfinden.

Doch es gibt weitere Herausforderungen insbesondere für den Mittelstand: Globalisierung, Digitalisierung, Industrie 4.0, Verschiebung der Märkte in Richtung Asien mit anderen Wertesystemen. Aber auch für die Gesellschaft allgemein: zunehmende Automatisierung mit Gefahren für den Generationenvertrag, demografischer Wandel, Nachwuchs- und Fachkräftemangel, fehlendes Unternehmertum, Migration. Möglicherweise müssen wir über grundlegende Veränderungen wie bedingungsloses Grundeinkommen nachdenken.

Viele Szenarien deuten darauf hin, dass sich der Wohlstand nicht auf dem jetzigen Niveau halten können wird. Der Verhaltensökonomie folgend wiegen Verluste wesentlich schwerer als Gewinne in gleicher Höhe. Am Ende ist es der Mensch, der angesichts offensichtlicher Belastungsgrenzen der Umwelt, der Luft oder der Verkehrswege sein Verhalten ändert und auf das Auto oder den Konsum verzichtet. Manchmal kommt der Wandel disruptiv, Beispiele sind Detroit, Ruhrgebiet, Kodak, die deutsche HiFi- und Kameraindustrie. Disruptiver Wandel beginnt mit dem Festhalten an vertrauten Mustern und dem Unvermögen, das Undenkbare zu denken.

Das Festival ist der Versuch, diese Grenzen des Denkens zu überwinden, neue Sichtweisen zu entwickeln und unkonventienelle Lösungen zu suchen, kurzum die Veränderung der Region durch die Zusammenarbeit von Kunst und Industrie in den Kommunen vorzubereiten.

Die am Festival beteiligten Kommunen schlagen Firmen vor, denen der Kurator Künstler aus dem In- und Ausland aufgrund ihres Arbeitsgebietes und ihrer Historie zuordnet und zugleich eine Gesamtschau herstellt. Der Künstler lebt einige Zeit vor Ort und schafft ein orts- und firmenspezifisches Kunstwerk innerhalb eines erweiterten Kunstbegriffes. Wegen der prozesshaften Arbeitsweise ist das einzelne Kunstwerk ein Experiment mit ungewissem Ergebnis und Ausgang, auf das sich die Beteiligten einlassen. Möglicherweise kann ein Experiment auch scheitern.

Künstler und Industrie sollen auf Augenhöhe zusammenarbeiten. Weder soll der Künstler die Firma im Sinne eines Hofmalers verschönern, noch soll die Industrie Aufträge vom Künstler entgegennehmen. Ziel ist eine in einem Kunstwerk verdichtete Erkenntnis über die Region und eine Reflektion anstehender Veränderungen.

Mit seiner kritisch-konstruktiven Herangehensweise möchte das Produktionskunst-Festival »Drehmoment« seinen Beitrag zu einem positiven Wandel der Region leisten, indem das Zielgerichtete, Planbare der Industrie und die kreative Kraft der Kunst zueinanderfinden.

Seien wir auf das Ergebnis gespannt.«