Kunstprojekt "Station-P" von Dirk Schlichting beim Festival „Unter Beobachtung“ der KulturRegion Stuttgart 2020

Backnang

Dirk Schlichting: »Station-P«

Für seine Installation »Station-P« errichtete der Künstler Dirk Schlichting auf einer großen Brache an der Murr ein bunkerähnliches Gebäude. Der Bau aus grob verschaltem Sichtbeton erinnerte an eine Forschungsstation oder einen Schutzbunker. Dieses Häuschen inmitten der von Folien abgedeckten weitläufigen Freifläche zog die Aufmerksamkeit der Passantinnen und Passanten auf sich. Doch die Brache war eingezäunt, niemand kam näher als 100 bis 150 Meter an das Gebäude heran.

Schlichting spielte mit der Neugier der Betrachterinnen und Betrachter: An der Straße hatte er einen Aussichtspunkt eingerichtet und dort ein Fernrohr installiert. Durch das Rohr war nicht viel zu sehen, aber genug, um den Eindruck zu erwecken, die Station sei bewohnt. Eine leichte Bewegung der Entlüftungsklappen oder ein unregelmäßig aufleuchtendes kleines Signallicht wiesen darauf hin, dass im Inneren etwas vor sich ging, dass sich in der Station-P möglicherweise eine Person befand.

Und tatsächlich schien der Ort belebt: Der Künstler selbst hielt sich in dem Gebäude auf? Um ihm auf die Spur zu kommen, war ein Umweg in den virtuellen Raum nötig: Über den gesamten Ausstellungszeitraum wurde täglich von 19:20 bis 19:30 Uhr aus dem Innenraum live übertragen.

Jeweils 10 Minuten lang war zu sehen, wie Schlichting seinen Alltag im Gebäudeinneren verbrachte. Der einsame Künstler, mal rasiert, mal unrasiert beim Kochen, Schlafen und Lesen. Schlichting ließ uns zu Voyeurinnen und Voyeuren werden. Er spielte mit der Lust, das zu sehen, was im Verborgenen vor sich geht und einer gewissen Befriedigung, die der Blick auf das Leben der anderen verschafft. Dabei zog er uns in ein Spannungsfeld aus Nähe und Distanz, Privatheit und Öffentlichkeit hinein: Je ferner und unnahbarer etwas erscheint, desto größer ist der Reiz, ganz nah heranzutreten. Der Künstler inszenierte seinen Rückzug und exponierte sich damit gleichzeitig selbst. 

Er führte diese Widersprüchlichkeit deutlich vor Augen und verwies damit auf eine im Zeitalter der sozialen Medien allgegenwärtig lauernde Falle: Wer Privates teilt, kann heute kaum noch ermessen, wer am anderen Ende hinter dem Fernrohr sitzt. Und noch eine zweite Ungewissheit der durchdigitalisierten Welt deutet sich an: Wenn sich zwischen mir und dem, was ich ›live‹ sehe, ein Bildschirm befindet, wie kann ich sicher sein, dass es sich tatsächlich ereignet?

Der Kunstschaffende

Der Installationskünstler Dirk Schlichting wurde 1965 in Düsseldorf geboren. 1988 begann er an der Kunstakademie Münster bei Joachim Bandau zu studieren, seit 1992 als Meisterschüler. Bereits während des Studiums erhielt er verschiedene Auszeichnungen. 1991 wurde ihm der Förderpreis der Gemeinde Everswinkel verliehen, 1993 der Förderpreis »Studiogalerie XVI« des Landschaftsverbandes Westfalen-Lippe. 1994 schloss er das Studium mit dem Akademiebrief ab. Seit 1991 sind seine oft ortsbezogenen Installationen in zahlreichen Einzel- und Gruppenausstellungen zu sehen. Schlichting ist Mitglied im Westdeutschen und Deutschen Künstlerbund, er lebt und arbeitet in Herne.

Daten & Fakten

Ort

Brache an der Murr

Zeitraum

25.9.–1.11.2020