Grafik: Schriftzug »Schlamassel Tov – wie deutsch ist jüdisch« auf pinkem Hintergrund. Der Begriff Schla massel Tov ist dabei auf drei Ebenen und farblich unterschiedlich dargestellt: »schla« und »tov« sind in einem Blauton gehalten. »massel« in einem dreidimensional anmutenden Weiß, das an eine Nudel erinnern soll. Das »massel« schlängelt sich um das »a« aus »schla« und das »o« aus »tov«
Grafik: Schriftzug »Schlamassel Tov – wie deutsch ist jüdisch« auf pinkem Hintergrund. Der Begriff Schla massel Tov ist dabei auf drei Ebenen und farblich unterschiedlich dargestellt: »schla« und »tov« sind in einem Blauton gehalten. »massel« in einem dreidimensional anmutenden Weiß, das an eine Nudel erinnern soll. Das »massel« schlängelt sich um das »a« aus »schla« und das »o« aus »tov«

Schlamassel-Tov!

Ich liege nachts wach und frage mich, was ist eigentlich das jüdische an mir?
Ich bin nicht religiös, 
habe seit Jahrzehnten Synagogen nur als Begleitung oder Touristin von innen gesehen.  
Ich trage mein Haar sichtbar (bin eh nicht verheiratet) 
Esse Schwein - wenn mir danach ist. 
Was für ein Schlamassel! 

Ich spreche kein Hebräisch,  
arbeite samstags, vergesse die meisten jüdischen Feiertage. Von einigen weiß ich nicht mal so genau, was zu feiern wäre.  
Was für ein Schlamassel! 

Bin keine Bundistin,  
kenne keine sephardischen Lieder auswendig  
oder jiddische Geschichten aus dem Stegreif.  
Ich bin nicht in Israel geboren, was für viele Deutsche das Synonym für jüdisch zu sein scheint,  
kann keine mizrachischen Gedichte,  
hatte keine Bat Mizwa,  
kann mich nicht an Machane erinnern.  
Was für ein Schlamassel! 

Was ist also das Jüdische an mir?  
Sind es die Albträume?  
Die drei riesigen Koffer, die ich packe, wenn ich für ein verlängertes Wochenende das Land verlasse?  
Die Lücken in meiner Familienbiografie?  
Was für ein Schlamassel! 

 »Was ist das Jüdische an mir?«  
ist auch die Frage nach: Darf ich mich jüdisch nennen, wenn ich auf der deutschen Checkliste mehr Felder unangekreuzt lassen muss, als dass ich Häkchen setzen kann?  
Was für ein Schlamassel! 

Doch dann erinnere ich das Gespräch mit Dir. Der Moment in dem Wir-zwei-Beide bonden.  
Über ein Gefühl, ein Wort, ein Verständnis, einen Blick, eine Erfahrung. Und unser Jüdisch-Sein? Verbindet uns! Community. 
tov, tov, Masel tov!

Ich erinnere mich in einem Raum voller Gojim zu sein und auf den einen Gedanken zu kommen, auf den sonst niemand der Anwesenden kommt. Fragen zu stellen, wenn alle nach Antworten suchen. Ein Buch zu lesen und Welten zwischen dem Geschrieben zu entdecken. Der »jüdische Blick« - Welten und Möglichkeiten.
tov, tov, Masel tov! 

Ich denke liebevoll an die Stolperer und tragisch-humoresken Drehungen und Windungen meiner Familie zwischen Trauer und Feier. Zwischen Traditionen leben und schaffen. Jüdische Resilienz und Regidität. 
tov, tov, Masel tov! 

Ich bestaune die Schätze in meinem Wissen und in meiner Wahrnehmung, von denen ich nicht einmal wusste, dass sie existieren. Gelegentlich, versehentlich stolpere ich über den einen oder anderen von ihnen. An anderen Tagen versuche ich in voller Anstrengung sie in archäologischer Akribie vorsichtig Stück für Stück freizulegen. Ein jüdisches Erbe, ein jüdisches Geschenk.
tov, tov, Masel tov!  

Es scheint mir wie Liebe und Liebeskummer gleichzeitig, mein Jüdisch-Sein. 
Wie Gedächtnis, Erinnerung, Vergessen, Vorhersehung und Nicht-Wissen in einem. 
Es ist wie Luft, die mich durchströmt – etwas, das in mir ist, das ich freisetze und einsauge, Teil von mir ist, von mir wird und mich verlässt, aus all meinen Poren dringt ungesehen und lebensnotwendig.
tov, tov, Masel tov! 

Mal leise, wie ein Wispern, eine vage Vermutung, ein unbewusster Reflex. Im nächsten Moment ein lautes Tosen, gelernte Anstrengung. Es ist eine fremde Galaxie in mir, ein noch fremderes Universum so weit von mir entfernt, dass ich es niemals ganz greifen werden kann. 
tov, tov, Masel tov! 

Es ergreift mich die schläfrige Gewissheit, dass mein Jüdisch-Sein keine Kippa auf einem Kopf ist, die von zweifelnden Winden davon geweht werden kann. Sondern die Wurzeln, die mich fest in einer - meiner - dieser Welt verankern. 
tov, tov, Masel tov! 

Ein Seufzer noch, bevor der Schlaf mich vollends ergreift. Mein Jüdisch-Sein: Schlamassel-Tov

Debora Antmann